Rede auf der Demonstration am 4. November 1989
Liebe Freunde, Mitbürger,
es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen schon gezimmerte Tribüne hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor den Erhabenen! Und heute! Heute hier, die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist.
In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu mir mit
ihren Klagen. Dem war Unrecht geschehen, und der war unterdrückt und geschurigelt
worden. Und allesamt waren sie frustriert. Und ich sagte: So tut doch etwas! Und sie
sagten resigniert: Wir können doch nichts tun. Und das ging so in dieser Republik, bis es
nicht mehr ging. Bis sich so viel Unwilligkeit angehäuft hatte im Staate und so viel Unmut
im Leben der Menschen, dass ein Teil von ihnen weglief. Die anderen aber, die Mehrzahl,
erklärten, und zwar auf der Strasse, öffentlich: Schluß, ändern. Wir sind das Volk!
Einer schrieb mir - und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere
Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und
das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und
wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später
auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Laßt uns
auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein
paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser
Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der
Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen,
korrumpiert absolut. Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir
endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser
Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort,
heißt Herrschaft des Volkes.
Freunde! Mitbürger! Übernehmt die Herrschaft.
Quelle: http://dhme.dhm.de/ausstellungen/4november1989/htmrede.html